Der Kernspinner
Der Kernspinner

Der Kernspinner

Der Kopf ist das Erste, was von meinem Körper in der Röhre verschwindet. Ein Kopfhörer soll mich vor den zu erwartenden grauslichen Geräuschen schützen. Also eher ein Kopfnicht- oder -wenigerhörer, denke ich mir noch, während der Rest meiner Extremitäten vom Tunnel verschluckt wird. Dann endet die gemächliche, aber holprige Fahrt und für einen Moment habe ich das Gefühl, mich in einer Raumstation liegend auf eine lange Reise durch das lautlose All in Richtung Unendlichkeit zu machen. Jetzt in einen Tiefschlaf versetzt werden und in 1000 Jahren wieder geweckt werden, wenn die Welt eine bessere geworden sein wird!

Ein tiefes Brummen aus dem Maschinenraum, gefolgt von einem maschinellen Kreischen holt mich in die Realität zurück. Aber was ist schon Realität, wenn Du in einer Röhre gefangen bist? Die Signalhupe! Gefolgt von der Anweisungsfolge „Einatmen - ausatmen - nicht mehr atmen“, gesprochen von einer Domina, deren Stimme mir klarmacht, dass es keine Möglichkeit gibt, diese Befehle zu ignorieren oder gar diskutieren zu wollen. Also Luft anhalten, während eine Reihe von Tönen, in denen ich Alarmsignale aus einem Science-Fiction-Film zu erkennen glaube, meinen sensiblen Körper traktieren. Nach einer gefühlten Ewigkeit endlich der Befehl „Weiteratmen“. Diese Erleichterung! Ein Gefühl von Freiheit macht sich breit - atmen! Die Freude ist nur von kurzer Dauer. Die Befehlskette Ein-, Aus-, Nichtmehratmen wiederholt sich nun in kurzen Abständen und ich gewöhne mich langsam daran, ohne viel Nachzudenken den Anweisungen zu folgen. Bis aus dem dumpfen Geräuschnebel die Frage auftaucht, was wohl passieren würde, wenn der Befehl „Weiteratmen“ beim nächsten Mal ausbliebe. Würde ich mich trauen, trotz fehlender Erlaubnis einfach so Luft zu holen? Würde ich versuchen, das so zu tun, dass es niemand merkt? Würde mich jemand für diese rebellische Handlung bestrafen? Könnte ich zu meiner Verteidigung behaupten, dass ich nichts dafür kann, weil nicht ich Luft geholt habe, sondern etwas ganz einfach mich geatmet hat? Oder würde ich mich in mein Schicksal ergeben und am Ende nur noch hoffen, dass jemand kommt, um mich zu beatmen?

So in Gedanken vertieft, holen mich Klopfgeräusche in die Röhrenwirklichkeit zurück. Gibt es noch andere Gefangene auf dieser Station? Vielleicht gelingt es uns, Kontakt aufzunehmen und gemeinsam einen Fluchtplan zu entwickeln. Noch während ich Pläne schmiede, kommt Bewegung in die Sache. Meine Füße sind die ersten Teile, die die Röhre verlassen und gedämpft durch die Kopfkaumhörer höre ich eine freundliche Stimme: „Das haben sie ganz, ganz toll gemacht!“ Ja - ich habe mich brav an alle Anweisungen gehalten.

Eine atemberaubende junge Ärztin zeigt mir etwas später die Bilder und meint, dass alles in Ordnung sei. Ich bin erleichtert und als ich das Zimmer verlasse, höre ich sie rufen: „Weiteratmen!“

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